Tondokumente

BVN-Veranstaltung vom 29. September 1964

Hier finden Sie fünf Auszüge aus einem Vortrag von Robert M. W. Kempner von der BVN-Veranstaltung 
„Schonzeit für Mörder? Sollen die NS-Verbrechen verjähren?“
vom 29. September 1964

1. Robert M. W. Kempner warnt vor den Konsequenzen und die konkreten Gefahren für die Demokratie durch das Wiederauftreten von NS-Straftätern, falls die Verjährungsfrist bei der Ahndung von NS-Verbrechen nicht verlängert werden sollte:

„Wir haben 1930/1932 gewisse Warnungen ausgesprochen, denen man nicht nachgegangen ist. Und ich möchte heute etwas Ähnliches sagen. Wenn wir nicht durchsetzen können, dass die so genannte Verjährungsfrist - die wahrscheinlich gar nicht vorhanden ist, ich komme gleich darauf zurück - wenn diese Sache nicht verlängert wird, und wenn dem Strafverfolgungsorgan nicht die Möglichkeit gegeben wird, diese Dinge weiter zu verfolgen, dann wird eine sehr gefährliche Zeit anbrechen. Und zwar deshalb, weil dann Personen aus dem Unterschlupf und aus anderen Ländern, in denen die Verfolgungsfrist, die Strafverfolgungsfrist verlängert ist, herauskommen werden und hier sehr unangenehme Sachen anstellen werden, die weder uns noch der Bundesregierung noch sonst jemand, der auf Anstand und Sitte hält, angenehm sein werden. Ich gehe so weit, und glauben Sie mir, wenn wir nicht zu einer Verlängerung der Verjährungsfrist kommen, um das vorweg zu nehmen, dann können wir mit genau demselben Rechte sagen, und dann wäre es konsequent, heute alle Prozesse abzubrechen, und zu sagen, die Leute sollen frei rumlaufen. Nur wer dafür ist, kann meines Erachtens, und das wird sich in den nächsten Jahren herausstellen, für ein Stoppen der Verjährungsfrist sein.”

2. Robert M. W. Kempner widerlegt vermeintliche Argumente, die gegen die Verlängerung der Verjährungsfrist vorgebracht wurden und erläutert die begrenzten Zuständigkeiten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg:

„Nun, ich möchte einige Worte zu dieser zentralen Stelle in Ludwigsburg sagen. Dort in Ludwigsburg sitzen ganz ausgezeichnete Leute. Und sie bemühen sich, obwohl sie einen verhältnismäßig kleinen Stab haben, das ist eine Sache. Man kann aber nicht darauf, dass Ludwigsburg eine größere Anzahl von Verfahren in Bewegung gesetzt hat - und das sind viele hundert Verfahren und werden noch sieben- oder achthundert Sachen sein -, man kann das ja nicht, wie man früher in Berlin sagte, in Kriminalkreisen als „Alibibi“ dafür benutzen, dass nichts weiter geschehen soll. Es wird immer gesagt, Ludwigsburg hat für alles gesorgt, nicht wahr? Der da oben der hat schon alles gemacht. Dieser Einwand, der in der Öffentlichkeit uns so oft aufgetischt wird, der zieht nicht. Und da hinten, die Staatsanwälte aus Berlin, die wissen doch ganz genau, warum er nicht zieht. Die wissen das ganz genau. Die können Ihnen nämlich bestätigen, dass Ludwigsburg ja nur für bestimmte Arten von Verbrechen in Frage kommt. Und dass Ludwigsburg - ich sag es jetzt ganz roh - eigentlich überhaupt nur Zuständigkeit hat, Sachen zu bearbeiten, soweit die Sachen im Ausland stattgefunden haben. Aber hunderte und tausende von den Verbrechen haben ja im Inland stattgefunden, so dass Ludwigsburg, das eben auch nur gewisse Massenverbrechen behandeln kann, für diese Dinge gar nicht in Frage kommt. Also a) bei der Verjährung beachten und sich nichts einreden lassen, dummes Zeug! - ah, in Nürnberg, da haben sie ja schon alles gemacht, nicht wahr, da war der Kerl, der Kempner mit langem Bart und Hackebeil. [Gelächter im Publikum] Quatsch mit Soße! Zweiter Einwand: In Ludwigsburg, da ist ja der Schüle, der ist ja auch nicht viel besser, der verfolgt ja auch die Nazis, furchtbarer Mensch! Der hat schon das und das und das gemacht! Stimmt auch nicht! An bestimmte Sachen kam der gar nicht ran und will auch gar nicht ran, weil es gar nicht seine Sachen sind.”

3. Robert M. W. Kempner berichtet über das eingestellte Verfahren gegen Gerhard Klopfer, einen Teilnehmer der „Wannsee-Konferenz“ vom 20. Januar 1942. Auf der Besprechung hatten hohe Vertreter des NS-Staates über die Kooperation beim Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden beraten:

„Ja und nun kommt die Tragödie. Wollen wir doch mal paar Fälle durchgehen von Herren, bei denen das Verfahren eingestellt worden ist, bei denen keine Massenverbrechen begangen waren. Ich sage das ausdrücklich, nicht wahr, das sind alle feine Leute. [Gelächter im Publikum] Da haben wir zum Beispiel, da hatte ich einen lieben Bekannten, den ich öfters vernommen habe, der an der so genannten Wannsee-Konferenz teilgenommen hat, die Sie ja kennen, ich habe das Protokoll veröffentlicht. Diese berühmte Besprechung der Staatssekretäre am 20. Januar 1942, dahinten am Kleinen Wannsee, wo der Eichmann die Sache vorbereitet hat, wo der Heydrich die Sache vorgetragen hat. An dieser Konferenz war natürlich auch der verflossene und wahrscheinlich verflüchtigte Bormann beteiligt. Bormann ist nicht selbst hingegangen, sondern er hat seinen damaligen Ministerialdirektor, seinen späteren Staatssekretär Herrn Gerhard Klopfer, hingeschickt. Tja, der lacht schon wieder, mein Freund Franz Neumann. Der hat nämlich eine Kleine Anfrage gemacht. Was ist eigentlich aus dem Manne geworden? Also, da ist ihm allerhand erst erzählt worden, was nicht so ganz gestimmt hat, nicht? Vor allen Dingen hat man ihm nicht erzählt, dass dieser Herr, den ich schon in Nürnberg mehrfach vernommen hatte, nach dem Ende der Nürnberger Prozesse mit einem großen Votum und einer Anklage, die nicht mehr unterschrieben wurde, an eine deutsche Justizbehörde übergeben worden war, seine Akten, und dass diese deutsche Justizbehörde gesagt hatte - die so genannte Überleitungskommission, da war der verstorbene Aschner in Nürnberg, Sie wissen das – das ist eine Mordsache, die geb‘ ich demjenigen Lande in Westdeutschland, das für den Mann jetzt zuständig ist. Zunächst nichts geschehen, Franz Neumann hat die Sache in die Hand genommen, daraufhin ist etwas geschehen: Ein Verfahren ist weitergeführt worden. Und nun kam der böse Herr Kempner und hat dann mal gefragt vor Kurzem, was ist eigentlich mit dem Herrn, mit dem früheren Staatssekretär von Bormann? Ich meine, wenn der ein fauler Kopp gewesen wäre im Sinne des nationalsozialistischen Reiches, dann wäre er ja nicht bei Bormann gewesen. Er war da ja nicht als Hauptbremser von der Eisenbahn hingeschickt worden. [Gelächter im Publikum] Tja - Verfahren eingestellt. Das Verfahren ist eingestellt.“

4. Robert M. W. Kempner spricht über die Lebensbedingungen und die Ausstattung der Justizbehörden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und die daraus folgende unzureichende Ahndung von NS-Verbrechen in der unmittelbaren Nachkriegszeit:

„Ich brauche hier unter Ihnen, die politisch interessiert sind, nicht groß auseinanderzusetzen, was eine Verjährungsfrist ist. An einem bestimmten Tage beginnt sie zu laufen. Es wird angenommen, die Verjährungsfrist hat am 9. Mai 45 zu laufen angefangen, weil da die deutsche Justiz wieder zu arbeiten angefangen hat. Das ist ein ganz großer Hokuspokus. Da hat er nämlich Nichts zu arbeiten angefangen, davon ist gar keine Rede. Und es ist ja heute was, was man ihr gar nicht übelnehmen kann, ich hab‘ doch die deutsche Justiz gesehen, als ich das erste Mal wieder hier im Frühsommer 45 in Berlin und später in Nürnberg war. Ich hab‘ doch die Richter und Staatsanwälte gesprochen. Ja, was waren das für Menschen? Sie hatten - ich rede jetzt nicht von Nazis - sie kamen aus dem Felde zurück, freuten sich, wenn sie bei uns in Nürnberg waren, aus verschiedenen, sehr erklärlichen Gründen, wie das damals war, nicht wahr? Und ich habe nie meine früheren Freunde und auch Nichtfreunde in dieser Beziehung schlecht behandelt. Die saßen da und wollten Justiz machen. Ich sage, wie machen Sie denn Justiz hier? Können wir nicht. Ich sage, warum können Sie nicht? Na, ich muss doch erstmal selbst nach den Kartoffeln sehen. [Gelächter im Publikum] Ich sage, und wenn Sie nun die Kartoffeln haben, können Sie Justiz machen? Nee. Ich sage, ich will Ihnen sagen, warum Sie keine Strafjustiz und Strafverfolgung machen können. Wieso denken Sie? Ich sage, dazu gehört Telefon. Dazu gehört Benzin, was glauben Sie? Bis wir die Leute zusammen hatten, die da angeklagt werden sollten, die hatten keinen Gerichtsschreiber, der da Ladungen ausgestellt hat. Unser Bürovorsteher war ein General!“

5. Robert M. W. Kempner spricht über Verjährungsfristen in Europa und befürchtet einen Zustrom untergetauchter NS-Verbrecher nach Deutschland, falls die Ahndung von NS-Massenverbrechen in der Bundesrepublik eingestellt werden würde. Er fordert ein entschlossenes westdeutsches Vorgehen bei der Verlängerung der Verjährungsfrist:

„Ich für meine Person, wenn man abgebrüht ist und viel mit diesen Mördern zu tun hat, ich - schimpfen Sie jetzt nicht auf mich, warten Sie, bis ich ausgeredet habe -, ich will nicht die Vergangenheit bewältigen. Ich habe kein Interesse, die Vergangenheit zu bewältigen, dazu habe ich gar keine Zeit im Moment. Ich will die Zukunft bewältigen! [Applaus vom Publikum] Und zur Bewältigung der Zukunft gehört, dass wir reine Luft haben und nicht heute oder morgen von dieser oder jener Seite plötzlich gesagt bekommen, das und das ist und es tauchen Mörder auf, und Sie können sich doch vorstellen, dass all die Leute, die verschwunden sind, die untergetaucht sind, plötzlich auftauchen. Kommen sogar all die Toten kommen wieder. All die Toten, stellen Sie sich das vor! Ich meine die Toten, die gar nicht in den Gräbern liegen, sondern die Toten, die sich nur für tot haben erklären lassen! Stellen Sie sich vor, all die Leute kommen wieder mit ihrem richtigen Namen, die sich nur 1944 einen anderen Namen genommen haben auf Befehl des verstorbenen Herrn Reichsführers SS Heinrich Himmler. All die kommen wieder aus Ländern, die lange Verjährungsfristen haben. Ich geniere mich nicht zu sagen, wenn die Tschechen eine lange Verjährungsfrist gemacht haben oder verlängert haben, wenn das drüben im Osten gemacht worden ist, wenn das in Israel gemacht worden ist, wenn nächstens in Frankreich sowas gemacht wird oder in Belgien oder in Holland, nein, wir lassen uns nicht drücken. Warum, wir brauchen uns gar nicht drücken zu lassen. Wir sollten vorgehen - als Erste das machen! [Applaus vom Publikum] Und nicht als Letzte.“